"Wir erleben im Moment in Deutschland, dass immer mehr gebaut wird, dass immer mehr Flächen zersiedelt und zubetoniert werden", sagte Axel Mayer vom "Bund für Umwelt- und Naturschutz" (BUND). Die Flächen würden zwar offiziell ausgeglichen. "Aber es ist kein realer Ausgleich. Und so werden wir in Zukunft irgendwann erleben, dass alles zubetoniert ist, aber alles naturschutzrechtlich korrekt ausgeglichen wurde." Mehr Infos:
Wenn Natur durch Baumaßnahmen oder anderes zerstört wird, dann soll diese Zerstörung zumindest ausgeglichen werden...
Die Eingriffsregelung (auch Eingriffs-Ausgleichs-Regelung) nach §§ 13ff. BNatSchG ist zumindest theoretisch das wichtigste Instrument zur Durchsetzung des Naturschutzes beim Bauen. Die schöne Grundidee ist ein generelles Verschlechterungsverbot für Natur und Landschaft. Mit dieser Eingriffsregelung sollen negative Folgen von Eingriffen in Natur und Landschaft wenn möglich vermieden oder zumindest minimiert werden. Nicht vermeidbare Eingriffe sollen ausgeglichen werden. Ökokonten und Ökopunkte sind die Instrumente, mit denen der Ausgleich organisiert wird.
Der Idealfall sähe folgendermaßen aus:
Eine naturzerstörende Baumaßnahme wird geplant und Eingriffsregelung & Ausgleichsmaßnahmen bewirken das Folgende:
Die naturzerstörende Baumaßnahme kann verhindert werden.
Die naturzerstörende Baumaßnahme kann nicht verhindert werden, die Naturzerstörung wird allerdings zumindest reduziert.
Anstelle der entwertenden Flächen werden möglichst ortsnah dauerhaft neue Naturflächen oder gleichwertiger Ersatz geschaffen.
Angesichts des enormen Flächenverbrauchs, der Zersiedelung und Naturzerstörung in allen Ballungsräumen in Deutschland, stellt sich die Frage, wo denn die vielen zerstörten, betonierten, denaturierten Naturflächen tatsächlich "ausgeglichen" und durch die Neuschaffung von Ersatznatur ersetzt wurden?
In den letzten 60 Jahre hat sich die Siedlungs- und Verkehrsfläche in Deutschland mehr als verdoppelt. Im Jahr 2014 wurde täglich eine Fläche von 69 Hektar neu ausgewiesen - meist zulasten der Landwirtschaft und fruchtbarer Böden. Das entspricht etwa der Größe von ca. 100 Fußballfeldern. Das Negativbeispiel Landshut wird bundesweit immer mehr zum Vorbild für "flächenfreien Ausgleich". Für 454 Hektar Flächenverbrauch wurde 1 Hektar reale Ausgleich- und Ersatzfläche geschaffen. Wenn "marktwirtschaftliche Instrumente" wie Ökopunkte oder nichtsnutzige CO2-Zertifikate bei Natur- und Umweltdingen angewandt werden, dann ziehen Mensch, Natur und Umwelt zumeist den Kürzeren.
Massiver politischer Widerstand gegen einen realen Flächenausgleich kommt nachvollziehbarer Weise von der mächtigen Landwirtschaftslobby, denn die Landwirte sind doppelt betroffen. Einerseits schwinden ihre Flächen durch den Bauboom, anderseits sind landwirtschaftliche Monokulturen auch ideale Flächen, um Ersatznatur zu schaffen.
Dieser Druck einer starken Bauern-Lobby führt bei den zuständigen Behörden dazu, dass der Ausgleich immer weniger in realen, neuen Naturflächen realisiert wird und dass beinah alle Maßnahmen zum Ausgleich möglichst teuer und aufwändig geplant und realisiert werden.
Das Geschäft mit Ökokonto und Ökopunkten vereinfacht den Bau von Straßen und Gewerbegebieten. Doch hilft es auch der Natur oder der "Ausgleichsindustrie"? Oder wird die Zerstörung von Wald und Wiese eher befördert? Ein lesenswerter Beitrag im Spiegel zeigt die Kritik.
Den eklatanten Unterschied zwischen zugebauten Flächen und Ersatznatur zeigt eine parlamentarische Anfrage der GRÜNEN IN Bayern:"Der niedrigste Ausgleichs-Wert wird von der Stadt Landshut gemeldet; 1 Hektar Ausgleich- und Ersatzfläche für 454 Hektar Flächenverbrauch (= 0,2 %)."
Hier einige kurze Beispiele:
Ein Extrembeispiel sind Ökopunkte für die Waldkalkung im Ortenaukreis
Im Ortenaukreis wird der Wald gekalkt. "Zehn, allenfalls 15 Cent kostet es, über die Waldkalkung einen Ökopunkt zu erzeugen. Der ist dann später, weil er gehandelt werden kann, je nach Marktlage das Zehnfache wert." schreibt die BZ. Für BUND-Geschäftsführer Axel Mayer ist dieser Ablasshandel legaler Betrug.
Aus dem Hohenlohekreis berichtet der BUND-Experte Gottfried May-Stürmer: "Eine Trockenmauer wird nach dem Biotopwertsystem bewertet. Dann wird sie abgerissen, um 20 m versetzt und aus denselben Steinen neu gebaut. Das kostet tierisch viel Geld. Nach dem Herstellungskostenansatz bringt sie nun 10x soviel Ökopunkte wie die alte Mauer..." Der Antrag wurde gestellt, wurde aber nicht bewilligt.
Viele Millionen Euro teure Grünbrücken über Straßen sind aus dieser Sicht für Behörden "ideale und konfliktfreie" Ausgleichsmaßnahmen. Sie verschlingen viele Millionen (= viel Ausgleich), brauchen keine landwirtschaftlichen Flächen, nützen der Natur und auch der ADAC und die Betonindustrie freuen sich. Die zerschnittene Natur braucht tatsächlich Grünbrücken. Diese müssen allerdings aus Straßenbaugeldern finanziert werden und nicht mit Ausgleichsgeldern.
Ein aktuelles Beispiel für die Praxis von flächenvermeidenden Ausgleichsmaßnahmen kommt aus der Green City Freiburg:
In Freiburg wird auf der ehemals grünen Wiese ein neues Stadion für den Spotclub gebaut. Im Idealfall müsste die denaturierte Fläche ortsnah durch die Schaffung von Ersatznatur ausgeglichen werden.
Doch jetzt soll ein Teil des ökologischen Ausgleichs, den die Stadt Freiburg im Zusammenhang mit dem geplanten Stadionneubau des SC Freiburg vorzunehmen hat, an kommunalen Weinbergböschungen im nahen Kaiserstuhl geleistet werden.
Die Stadt Freiburg verpflichtet sich, 33 Hektar Böschungsflächen ökologisch aufzuwerten und anschließend zu pflegen. Kosten wird das Projekt über 30 Jahre hinweg zwei Millionen Euro. Nach Ablauf dieser Zeit muss die Pflege der Böschungen im Rahmen der kommunalen Selbstverpflichtung der Stadt Freiburg dauerhaft durch deren kommunalen Haushalt finanziert werden .Zudem bekommt Vogtsburg dafür, dass es der nahe gelegenen Großstadt Flächen für den ökologischen Ausgleich zur Verfügung stellt, eine Entschädigung von 135000 Euro bezahlt.
Aus BUND-Sicht ist das das politisch spannend (Ewigkeitslasten für Freiburg), hübsch, nützt den Gemeinden am Kaiserstuhl und tatsächlich auch der Natur und den böschungspflegenden Landwirten... Doch eigentlich wird hier ein Problem, das durch die Großumlegungen im Weinbau entstanden ist, durch Ausgleichsmaßnahmen aus dem Freiburger Flächenfraß behoben. Das Böschungsproblem ist auch durch die massive Naturzerstörung der Großumlegungen im letzten Jahrhundert entstanden. Seither stehen die Eigentümer der Böschungen in der Pflicht sich um diese kümmern. Die damals geschaffenen Probleme dürfen nicht mit Geldern aus neuer Naturzerstörung in Freiburg saniert werden.
Was nützt es der Natur und was ist es für ein Ausgleich, wenn die bisher für die Böschungen verantwortlichen Gemeinden aus Ihrer Pflicht entlassen (und dafür noch mit 135.000 Euro entschädigt!) werden? Eine Ausgleichsmaßnahme muss eine Verbesserung bringen. Die „ökologische Aufwertung“ wäre also ein (leider) möglicher Ausgleich. Die folgende Bestandspflege ist kein Ausgleich. Die „stille Subventionierung des SC“ durch die Ewigkeitslasten für Freiburg halten wir für juristisch fragwürdig.
Bei einer "Modernisierungsmaßnahme" in Weisweil wurden 3 m breite Gras/Schotter-Feldwege über eine Länge von 1,1 km in 4,5 m breite Asphaltwege umgewandelt. In die Ausgleichsberechnung kam dabei nur der Verbreiterungsbetrag von 1,5 m. Als Teil des "Ausgleichs" wurden beidseits der Wege 25 cm (!) breite Grünstreifen geplant. Begründung: Damit bleibt die Funktion als Standort für die natürliche Vegetation auf einer Fläche von 550 qm erhalten! (Gemeinde Weisweil / Amt für Flurneuordnung LRA Emmendingen)
Wenn Sie weitere, belegbare Beispiele für verfehlte Ausgleichsmaßnahmen, Ökokonten und Ökopunkte kennen, dann informieren sie uns bitte: bund.freiburgbund.net
Die Hoffnung, Naturzerstörung und Flächenverbrauch tatsächlich "ausgleichen" zu können, erweist sich in Endphasen exponentiellen Wachstums immer mehr als Illusion. Wie gesagt: "Irgendwann ist Deutschland zugebaut, aber alles ist naturschutzrechtlich korrekt ausgeglichen". Die Politik fordert seit Jahrzehnten eine Reduzierung des Flächenverbrauchs, lässt den schönen Worten aber wenig konkrete Taten folgen.
Der objektive Nutzen von Eingriffsregelungen, Ausgleichsmaßnahmen und Ökokonten für die Natur muss immer wieder kritisch hinterfragt werden, damit "Ausgleich nicht zum Ablass" wird.
Dabei wären Lösungsansätze denkbar. Der Bund Ökologische Lebensmittelwirtschaft (BÖLW) fordert in einem Thesenpapier: "Versiegelung nur bei gleichzeitiger Entsiegelung". Diese Forderung ist radikal, aber notwendig. Sie bringt auch die Interessen von Naturschutz und Landwirtschaft zusammen. Spielraum gibt es z.B. beim hohen Parkflächenanteil in Gewerbegebieten. Wenn für jeden neuen Gewerbebau ein alter Parkplatz entsiegelt und dafür eine Tiefgarage in den Keller des Neubaus gebaut würde, hätten wir für diese Vorhaben eine Netto-Null...
Axel Mayer, BUND-Geschäftsführer
Einige weiterführende, kritische Beiträge zu diesem Thema: (Hierbei handelt es sich vor allem um individuelle Fälle aus ganz Deutschland)
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Wo sind die vielen NaturschützerInnen & BiologInnen
in den wichtigen, aktuellen Naturschutzkonflikten am Oberrhein? Es gibt am Oberrhein eine Vielzahl von Menschen mit einem großen Wissen und Sachverstand in Sachen Natur und Umwelt. Doch in den großen Konflikten um unsere bedrohte Restnatur, sei es beim IRP, beim Schmetterlingssterben, bei den Themen Flächenverbrauch und Zersiedelung halten sie sich meist "vornehm" und schüchtern zurück und überlassen die öffentliche Debatte & Leserbriefe den gut organisierten Lobbyisten und dem Stammtisch. Manche Spezialisten sehen auch nur ihr "Lieblingsbiotop" und vergessen darüber den großen Zusammenhang. Nur gemeinsam können wir wir die aktuellen Zerstörungsprozesse bremsen!
Axel Mayer, BUND-Geschäftsführer
Eingriffsregelung, Ausgleichsmaßnahmen, Ökokonto & Flächenverbrauch: Eine kurze Kritik
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