Zuversichtlich in die Zukunft
Was sind die zentralen Ziele der Politik: Wirtschaftswachstum, Lebensqualität oder Nachhaltigkeit? Wirtschaftswachstum, lautet heute wie vor 30 Jahren die vorschnelle Antwort. Doch taugt sie weder für die Gegenwart, noch trägt sie für die Zukunft – meint die BUND-Vorsitzende Angelika Zahrnt.
Die Ölkrise Anfang der 70er Jahre bescherte Deutschland ein paar autofreie Sonntage und verdrängte die gerade erst begonnene Debatte über die Gefahren der Atomkraft, die Grenzen des Wachstums und die Plünderung unseres Planeten aus den Schlagzeilen. Dem sozialdemokratischen Bundeskanzler Helmut Schmidt verhalf die Tatsache, dass sich der Ölpreis binnen weniger Wochen vervierfachte, zu keiner Einsicht über verschwendete Ressourcen, eine belastete Umwelt und die ökologischen Folgen ungebremsten Wirtschaftswachstums. Der »Bundesverband der Deutschen Industrie« nutzte die folgende Konjunkturflaute für eine vehemente Polemik gegen umweltpolitische Auflagen für die Industrie. Der Umweltpolitik wurde Stillstand verordnet.
Vorfahrt für Wachstum?
Heute bekommen wir vielleicht autofreie Sonntage als hilflose Reaktion auf die hohe Feinstaubbelastung. Heute haben wir steigende Ölpreise nicht wegen machtbewusster Ölkartelle, sondern wegen steigender Marktnachfrage in China und Indien. Heute wie vor dreißig Jahren wird die Kontroverse über Wirtschaftswachstum und Umweltschutz geführt – und wieder soll der Umweltschutz vertagt werden.
Dabei ist heute hinreichend bekannt, dass unsere Produktion und unser Konsum globale Folgen haben: Abbau der Ozonschicht, Klimawandel, Artensterben, Erosion und Versalzung der Böden, Wüstenbildung, Mangel an sauberem Trinkwasser … Diese Tatsachen haben Eingang in die Politik gefunden seit der Weltkonferenz zu Umwelt und Entwicklung 1992 in Rio: Zum Beispiel mit dem Klimaprotokoll und dem Protokoll zur biologischen Vielfalt auf internationaler Ebene, mit den nationalen Zielen zur Reduzierung des CO2-Ausstoßes und zum Ausbau erneuerbarer Energien. Das Bekenntnis heißt Nachhaltigkeit, doch im Zweifel gilt für die Bundesregierung – und die Opposition und die Wirtschaftsverbände sowieso: Vorrang dem Wirtschaftswachstum. Besonders offenkundig wurde dies, als Wirtschaftsminister Clement (damit ganz Sozialdemokrat der siebziger Jahre) die Ziele und die Ausgestaltung des Instruments Emissionshandel unter einen »Wachstumsvorbehalt« stellte: Nachhaltigkeit ist demnach eine Unterabteilung der Wachstumspolitik – nett, wenn sie sich integrieren lässt; Pech, wenn sie im Widerspruch zu den Interessen mächtiger Unternehmen steht.
Die Politik des Vorrangs für Wachstum kommt ohne Argumente aus. Eine Zahl genügt ihren Verfechtern: Über fünf Millionen Arbeitslose! Gestritten wird nur darüber, mit welchen Rezepten man Wachstum ankurbeln kann. Unternehmer und ihre politischen Fürsprecher setzen auf die Angebotsseite: Lohnkosten senken, Unternehmenssteuern reduzieren, entbürokratisieren und deregulieren, Arbeitnehmerrechte abbauen – all das würde zu neuen Investitionen, zu Exporthöchstleistungen und zum Verbleib der Unternehmen am Standort Deutschland führen. Die Vertreter des Nachfrageansatzes (aus dem Umfeld der Gewerkschaften) halten wenig von diesen Rezepten und fragen, wer denn die neuen Produkte kaufen soll, wenn die Binnennachfrage ausbleibt, wenn das Einkommen der erwerbstätigen Bevölkerung nicht steigt. Sie plädieren folglich für höhere Lohnabschlüsse und mehr Konsum, für staatliche Investitionsprogramme und damit für eine noch höhere Verschuldung.
Die Wachstumsfetischisten vergessen, dass 2% Wirtschaftswachstum gerade ausreichen, damit die Arbeitslosigkeit nicht noch weiter ansteigt. Viel mehr ist in einer gesättigten Volkswirtschaft nicht drin. In den USA werden höhere Wachstumsraten mit schärferer sozialer Ungleichheit und extremer Staatsverschuldung erkauft. Dort müssen viele Beschäftigte zwei bis drei Jobs annehmen, um einigermaßen auszukommen.
Trotzdem hält man – fast panisch – am Wachstumskurs fest: Vergessen sind die Vorsätze zu finanzieller Nachhaltigkeit, um künftigen Generationen nicht noch höhere Schuldenberge zu hinterlassen; verdrängt die Verpflichtung zur Vorsorge, etwa durch eine Reform des EU-Chemikaliengesetzes; verbaut das Bekenntnis zu ökologischer Nachhaltigkeit – auf den Betonpisten immer größerer Flughäfen und überflüssiger Autobahnen.
Ethische Bedenken werden kaltschnäuzig als »Technikfeindlichkeit« und »Innovationsblockade« abgetan. Die »Vorfahrt für Arbeitsplätze« – vom Bundespräsidenten wortreich und argumentationsarm unterstützt – hat in ihrer Eindimensionalität fanatische Züge. In einem solchen Klima werden Menschen mit differenzierten und wohl begründeten Einwänden zu Bedenkenträgern und Bremsern abgestempelt.
Arbeit ohne Umweltzerstörung
Wer die Wachstumsdebatte seit den 60er Jahren verfolgt, kann nur über die Ignoranz staunen, mit der alle Kritik am mangelnden Aussagewert des statistischen Konstrukts Bruttoinlandsprodukt ausgeblendet wird (mit ihm wird das Wirtschaftswachstum gemessen); und die immensen Folgekosten des Wachstums für das Gesundheitswesen und die Umwelt. Ökologische Folgekosten sind zwar ein Argument bei der Anlastung externer Kosten, zum Beispiel durch die ökologische Steuerreform oder die LKW-Maut. Aber die Ausrichtung am Wirtschaftswachstum als zentraler Zielgröße der Politik wird nicht grundsätzlich in Frage gestellt.
Der BUND setzt sich schon lange mit dem Wirtschaftswachstum auseinander: 1983 plädierten die Professoren Binswanger, Frisch und Nutzinger in einer BUND-Publikation für »Arbeit ohne Umweltzerstörung«. Sie konzipierten eine ökologische Steuerreform, um die wirtschaftliche Entwicklung in eine umweltverträgliche Richtung zu lenken. Mit der Studie »Zukunftsfähiges Deutschland« haben wir 1994 dargelegt, was eine nachhaltige Entwicklung für die Bundesrepublik bedeutet. Wir haben – oft mit anderen gesellschaftlichen Gruppen – Studien erarbeitet, wie im Bereich Ökolandbau, erneuerbare Energien, Energieeffizienz oder naturnaher Tourismus ökologische Ziele mit neuen Arbeitsplätzen verbunden werden können.
Und wir haben die Ausrichtung der Politik primär an der Schaffung von Erwerbsarbeitsplätzen kritisiert. Denn die Reduktion des Menschen auf bezahlte Arbeit und Konsum wird dem Leben nicht gerecht. Die alte Erkenntnis, dass Geld allein nicht glücklich macht, bestätigen Umfragen und Untersuchungen immer wieder: Familie und sozialer Zusammenhalt, Angstfreiheit durch soziale Absicherung und niedrige Kriminalität, Anerkennung der Tätigkeiten und der Person, Gesundheit sowie sportliche und geistige Beweglichkeit sind wichtiger als der finanzielle Status. Die Zufriedenheit mit dem finanziellen Status hängt wesentlich stärker von der eigenen Einordnung auf der Einkommens- und Vermögensskala als vom absoluten Niveau ab.
Weichen neu stellen
In vielen Bereichen müssen wir uns neu orientieren:
Immer längere Arbeitszeiten verstärken die Ausgrenzung der Arbeitslosen. Nötig wäre eine Verteilung der Arbeit (ohne Lohnausgleich), um mehr Menschen ein selbst verdientes Einkommen zu ermöglichen.
Gleichzeitig muss die Familienarbeit neu bewertet werden – eine alte Forderung, die durch die niedrigen Kinderzahlen und die zunehmende Zahl betreuungsbedürftiger Menschen politische Brisanz erhält.
Das Ehrenamt als persönliche Entfaltungsmöglichkeit und gesellschaftlicher Beitrag hat heute und in Zukunft große Bedeutung. Vereine und Verbände sind gefragt, die oft bekundete große Bereitschaft zum ehrenamtlichen Engagement aufzugreifen. Über tradierte Formen im Verbandsleben hinaus müssen sie – müssen wir – Möglichkeiten eines auch befristeten, projektbezogenen Engagements anbieten. Arbeitslose hier sinnvoll einzubeziehen ist eine Aufgabe, die wir stärker leisten könnten. Sie bedarf aber professioneller Hilfe und damit finanzieller Zuwendung für die Verbände.
Die wachsende gesellschaftliche Ungleichheit gefährdet den sozialen Frieden unserer Gesellschaft. Wirtschaftswachstum ermöglicht nicht länger die materielle Besserstellung aller. Der Verteilungskampf wird wieder härter. Daher brauchen wir einen neuen Konsens über sozialen Ausgleich und Chancengleichheit.
Noch mehr Konsum, noch mehr Schnäppchenjagd und »Geiz ist geil«-Mentalität führen in die Sackgasse. Die Anhäufung von Gütern und ihr schneller Wechsel korreliert nicht mit Lebensglück. Ein materiell bescheidenerer Lebensstil ist kein Unglück. Vor allem bleibt die Pflicht, einen Lebensstil zu entwickeln, der global übertragbar ist, ohne die Umwelt zu gefährden. Vor zehn Jahren klang es noch hypothetisch: »Wenn alle Chinesen so leben wollten wie wir …« Heute erlaubt es die ökonomische Entwicklung der Schwellenländer immer mehr Menschen, westliche Konsummuster nachzuleben – und ebenso rasch natürliche Ressourcen zu verbrauchen und Schadstoffe freizusetzen.
Regionale Wirtschaftskreisläufe und Produkte bedeuten weniger Verkehr und mehr Arbeitsplätze vor Ort, in Handwerk, Mittelstand und Landwirtschaft.
Statt die Globalisierung voranzutreiben und gleichzeitig ihre Folgen zu beklagen, lautet die zentrale Aufgabe der Zukunft, einen verbindlichen ökologischen und sozialen Rahmen für die Wirtschaft zu schaffen.
Mit Zuversicht nach vorne blicken
Eigentlich könnten wir doch zufrieden sein: Wir leben in einer materiell weitgehend saturierten Volkswirtschaft. Unser Land ist ausreichend mit Straßen erschlossen. Wir brauchen weder neue Schulen noch neue Schwimmbäder. Was wir erwirtschaften, können wir in die Sanierung der Häuser, die Verbesserung unserer Schulen investieren. Wir können uns eine Landwirtschaft leisten, die wohlschmeckende, ökologisch erzeugte Produkte liefert, den Tierschutz berücksichtigt und für eine artenreiche, vielfältige Kulturlandschaft sorgt. Wir können uns eine Gesundheitspolitik leisten, die Vorsorge ernst nimmt und nicht zuerst an den Profit der Pharmaindustrie denkt. Wir können uns eine Kulturlandschaft leisten, die die Vielzahl der Theater und Orchester aufrechterhält … Und wir können die Arbeit so verteilen, dass Zeit bleibt für Kultur und Natur.
Das mag naiv klingen. Doch die Suche nach neuen Wegen zu individuellem Glück, nationalem Ausgleich und internationaler Gerechtigkeit ist aussichtsreicher, als in der Sackgasse der blinden Wachstumsgläubigkeit zu verharren und bestehende Machtstrukturen als unabänderlich hinzunehmen. Vielleicht würden wir uns viel lieber nur der Biotoppflege widmen oder dem neuen vegetarischen Kochbuch oder der Solaranlage auf dem Dach. So wichtig das Handeln im eigenen Bereich und vor Ort ist – wir müssen uns weiter in die Politik einmischen. Der BUND ist vor 30 Jahren mit einem ganzheitlichen Ansatz gegründet worden. Die Vernetzung von Lebensräumen und Politikfeldern wurde damals schon erkannt. Die praktische Arbeit und die Politik gehörten von Anfang an zusammen. Diese Grundlagen unserer Arbeit sind aktueller denn je. Wichtiger geworden ist die internationale Dimension – mit unserem Netzwerk »Friends of the Earth« sind wir aktiv bei Konferenzen und Protesten dabei.
Eine andere Welt ist möglich, ein zukunftsfähiges Deutschland ist möglich. Die Erfolge der Umweltbewegung und des BUND in den vergangenen Jahrzehnten bestärken uns in der Zuversicht auf die demokratische Gestaltbarkeit von Politik. Dafür brauchen wir auch in Zukunft die Unterstützung der Mitglieder, Spender und Aktiven, der breiten Öffentlichkeit und der gesellschaftlichen Gruppen. Und wir brauchen aufgeschlossene Politiker und eine BUNDjugend, die den Blick auf die nächsten 30 Jahre richtet.
Angelika Zahrnt
Übersicht: Wachstum, Wachstumskritik, Wachstumsreligion und Nachhaltigkeit
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